Alarm schlagen ohne Angst vor Kündigung und Mobbing

Europäischer Gerichtshof stärkt Whistelblowern den Rücken

Das hier besprochene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Aktenzeichen ECHR 215/ 2011 vom 21.07.2011, mit dem entschieden wurde, dass die fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen der Veröffentlichung von Missständen bei ihrer Arbeitgeberin gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstieß,   stellt bereits formal eine Besonderheit dar. Es handelt sich nämlich nicht um ein Urteil der bundesdeutschen Jurisdiktion, aber dennoch entfaltet der Urteilsspruch unmittelbare Wirkung in der bundesdeutschen Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte sich in der besprochenen Entscheidung mit der Reichweite von Meinungsäußerungen im Unternehmen auf der einen und der Loyalitätspflicht der Mitarbeiter auf der anderen Seite zu befassen. Hierbei ging es um ein in der Praxis bedeutendes Problem, die strafrechtliche Anzeige eines Mitarbeiters mit der vermeintliche oder tatsächliche Straftaten des Arbeitgebers an die Öffentlichkeit gebracht werden sollen. Häufig werden derartige Mitarbeiter die sogenanntes Whistleblowing betreiben, also Alarm schlagen,  von Kollegen als Denunzianten gemobbt und vom Arbeitgeber gekündigt, etwa wegen des Verrats von Betriebsgeheimnissen. Bis zu dem jetzigen Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurde fast durchgängig von deutschen Arbeitsgerichten zu lasten der Meinungsfreiheit entschieden und

die vom Arbeitgeber ausgesprochen Sanktionen des hinweisgebenden Arbeitnehmers hatte auch gerichtlich bestand. Dies  wird sich nunmehr ändern.

 

Im Ergebnis hat dabei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erstmals klar und deutlich  die Meinungsfreiheit der Mitarbeiter inklusive der Veröffentlichung dieser Meinungen dem Grunde nach höher gewichtet als die Loyalitätspflicht der Mitarbeiter. Zum ersten Mal hat nunmehr der EGMR eine fundierte Grundlage für die Abwägung von Unternehmerinteressen und Loyalitätspflicht geliefert.

 

Zum Sachverhalt: Die Klägerin, Brigitte Heinisch, hat Mut bewiesen, als sie ihren Arbeitgeber,  ein Pflegedienstleistungsunternehmen,  im Jahre 2004 wegen Betruges anzeigte, und diesem vorwarf die Pflegedienstleistungen nicht wie vereinbart erbracht und abgerechnet zu haben.  Womöglich war der Altenpflegerin damals nicht klar, dass ihr dieses nicht nur die fristlose Kündigung einbringen, sondern ihr Fall Jahre später zu einem wegweisenden Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg führen würde. Einem Urteil, welches Arbeitnehmer stärkt, die bislang aus Angst vor Repressalien Missstände in ihrem Unternehmen nicht öffentlich anprangern wollten.

Brigitte Heinisch, eine Altenpflegerin, hat dieses getan. Sie ist allerdings nicht zu irgendeiner Zeitung gegangen oder hat sich einem TV-Sender anvertraut – Brigitte Heinisch hat im Dezember 2004 Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber gestellt, weil sie die Zustände bei ihrer Arbeitgeberin in einem Berliner Altenheim  nicht mehr akzeptieren wollte: Nämlich, dass der Klinikbetreiber ihrer Meinung nach zu wenig Personal für die pflegebedürftigen Bewohner einsetzte, die oft stundenlang auf Hilfe warten mussten. Weil Brigitte Heinisch der Meinung war, die Gegenleistung für die alten Menschen wie auch die Angehörigen entspreche nicht denen von diesen getragenen Kosten, stellte sie Strafanzeige wegen Betrugs gegen die Arbeitgeberin. Das Verfahren gegen ihre Arbeitgeberin wurde mangels hinreichenden Tatverdachtes eingestellt. Sie selbst wurde daraufhin im Jahr 2005 fristlos gekündigt. Ihre Klagen auf Wiedereinstellung wurden sämtlich abgewiesen.  Dass ihre fristlose Kündigung rechtmäßig gewesen sei, zu diesem Schluss kamen  sowohl Arbeitsgericht, als auch das Landesarbeitsgericht und das Bundesarbeitsgericht. Eine Verfassungsbeschwerde der Klägerin wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen.

Das EGMR bewertete die Interessenkollision zwischen Meinungsäußerungsfreiheit der Arbeitnehmerin und ihrer Pflicht zur Loyalität gegenüber der Arbeitgeberin  anders und entschied, dass mit der  fristlosen Kündigung gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, also der „Freiheit der Meinungsäußerung“ verstoßen wurde, zumal es keine Anhaltspunkte dafür gegeben habe, dass die Arbeitnehmerin wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hätte. Das Gericht sprach der Klägerin daher eine Entschädigung von insgesamt € 15.000,00 zu. 

Warum aber hat das EGMR im Fall der so genannten „Whistleblowerin“ Brigitte Heinisch, also einer couragierten Mitarbeitern, welche Missstände publik machte, das Urteil zu Gunsten

der Klägerin gefällt?  Immerhin lässt sich dem Vorwurf, sie habe mit ihrer Strafanzeige eine schädigende Wirkung auf den Ruf und die Geschäftsinteressen ihres Arbeitgebers gehabt, nicht widersprechen. Dieses hat der EGMR auch nicht getan. Dennoch haben die Richter am EGMR in diesem Fall das große Interesse der Öffentlichkeit daran, über Mängel in der Altenpflege Bescheid zu wissen, als wichtiger erachtet als die Interessen des Unternehmens und sich dabei auf Artikel 10 Europäische Menschenrechtskonventionen (EMRK) berufen.

Zugunsten der Klägerin werteten die Richter in ihrem Urteil, dass es im „deutschen  Recht keine spezielle Vollstreckungsmechanismen gibt, um eine Beschwerde eines Whistleblowers zu untersuchen und um den Arbeitgeber dazu zu bringen, die Missstände zu beheben“. Die Klägerin hatte in den Jahren vor ihrer Kündigung mehrfach die zuständigen staatlichen Aufsichtsbehören auf vermeintliche Unzulänglichkeiten aufmerksam gemacht, ohne dass aus ihrer Sicht eine Verbesserung der Situation eingetreten war. Daher war der „gute Glaube“ der Klägerin wesentlich  zu ihren Gunsten zu werten.

Noch ist das Urteil des EGMR nicht rechtskräftig. Die Bundesregierung hat drei Monate Zeit, Einspruch zu erheben und die Rechtssache an die Große Kammer des EGMR verweisen zu lassen, allerdings stellt die Entscheidung einen wesentlichen Wandel im Umgang mit so genannten Whistleblowern dar.

Fazit 

Die grundgesetzlich geschützte Freiheit der Meinungsäußerung wurde jetzt über Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention für Mitarbeiter erheblich gestärkt. Indes kann dem Urteil nicht die von manchem voreilig herbeigerufene Signalwirkung des „jetzt kann jeder gegenüber dem Unternehmen sagen und tun was er will“ beigemessen werden. Wer sich  mit dem zugrunde liegenden Sachverhalt genauer befasst hat, der kann erkennen, dass die Klägerin nach Auffassung des Gerichts in  gutem Glauben gehandelt hat, indem, sie die vermeintlichen Verstöße der Arbeitgeberin für tatsächlich gegeben und zudem strafrechtlich relevant hielt. Insbesondere deshalb, weil in der Vergangenheit der medizinische Dienst der Krankenkassen mehrfach bei Heimuntersuchungen Rügen ausgesprochen hatte, die nicht unmittelbar zu Verbesserungen geführt hatten, konnte die Klägerin nach Auffassung des erkennenden Gerichts  zumindest annehmen, dass die von ihr behaupteten Verstöße tatsächlich gegeben seien. Damit nahm das erkennende Gericht  zugunsten der Klägerin an, dass deren Interessen hier höher als das Geschäftsinteresse des Unternehmens zu bewerten war.

Rechtsanwalt Dr. jur. Frank Sievert

Rechtsanwaltskanzlei Dr.jur.Frank Sievert 

05.08.2011

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